Irmgard Keun: Kind aller Länder

Lesepunkte: 4 Punkte
AutorIn: Irmgard Keun
Titel: Kind aller Länder
Verlag: Kiepenheuer&Witsch, 2016 ISBN: 978-3-462-04897-1
Seiten: 224 Preis: 17,99 Euro
Altersempfehlung: ab 14 Jahren

Rezensiert von: Anna-Lena Mose [Max - Ernst - Gymnasium Brühl; Betreut von: Dagmar Lorenzen]

Die in Berlin geborene Autorin Irmgard Keun veröffentlichte 1938 erstmals den Exilroman „Kind aller Länder” bei Querido in Amsterdam. Die zu rezensierende Auflage stammt aus dem Jahr 2016 und ist im Kiepenhauer & Witsch Verlag in Köln mit einem Nachwort von Volker Weidemann erschienen.

Der Roman wird aus der Sicht der 10-jährigen Kully erzählt. Die Protagonistin berichtet von ihrer Flucht vor den Nationalsozialisten und dem Krieg. Ihr Vater ist ein Schriftsteller, dessen Werke in Deutschland verboten sind, weshalb er versucht in anderen Ländern seine Bücher zu verkaufen und dort Zeitungsartikel schreibt. Die Familie begibt sich auf eine Reise durch die ganze Welt von Brüssel nach Paris und schließlich sogar nach New York. Kully und ihre Mutter werden oft in Hotels zurückgelassen, bis ihr Vater genügend Geld aufgetrieben hat, um die Hotelrechnung zu bezahlen. Er ist sehr verschwenderisch und kann nicht mit Geld umgehen, daher leiht er sich meist das Geld bei flüchtigen Bekannten und verschuldet sich immer mehr. Die Familie lebt ein Leben voller Sorgen, Hunger, Geldnot und Kriegsängsten. Kully erzählt in dem Roman viele Geschichten der Vergangenheit, lustige aber auch traurige. Sie geht nicht zur Schule und wird stattdessen von ihrer Mutter unterrichtet. Ihr Leben ist ein einziges Abenteuer. Trotz der vielen Nöte, die teils durch ihren Vater hervorgerufen wurden, liebt Kully sowohl ihre Mutter als auch ihren Vater, den sie nur selten sieht von ganzem Herzen und beschwert sich nicht über die Umstände, sondern ist sogar froh, dass sie z.B. nicht zur Schule gehen muss.

Da das Werk aus Sicht eines Kindes geschrieben ist, ist es gut leserlich und verständlich. An bestimmten Stellen lässt sich die Erzählperspektive besonders erkennen. Hier werden typische Gedanken eines Kindes formuliert, die dem Roman Authentizität verleihen. Eine Stelle, in der ich mich als kleines Kind besonders wiedererkannte und die mir daher noch lange in Erinnerung bleiben wird, ist die Situation, in der Kully von den Grenzen erzählt: „Ich wollte immer mal eine Grenze richtig sehen, aber ich glaube, das kann man nicht [...]. Ich habe zuerst gedacht, Grenzen seien Gartenzäune, so hoch wie der Himmel [...]. Aber eine Grenze besteht aus gar nichts, worauf man treten kann.” (S. 37) Diese und noch weitere Stellen zaubern dem Leser ein Lächeln auf die Lippen und sorgen dafür, dass sich der Leser mit Kully identifizieren kann. So gewinnt Kully einen Platz im Herzen des Lesers.

Mit dem ernsten aber auch humorvollen und spielerischen Erzählten, zieht die Autorin den Leser in ihren Bann. Sowohl unbeschwerte Momente als auch mit Sorgen gefüllte Gedanken werden dem Leser mitgeteilt, sodass dieser sich voll und ganz in die Situation Kullys hineinversetzen kann. Er fühlt mit Kully und denkt besonders über ihre Worte nach. Ihre Worte sind meist aber nur Gedanken, denn Kully spricht nicht viel. Eher ist sie eine Beobachterin. Sie saugt die Ereignisse und die gefallenen Worte des Umfeldes auf. Teilweise weiß sie nichts mit dem Gesagten anzufangen und bekommt dadurch eine kindliche Naivität zugeschrieben. So z.B. als ihre Eltern ihr mitteilen, dass ihre Mutter schwanger ist: „Ich weiß nicht, warum wir auf einmal noch ein Kind haben müssen, aber sie sagen, es lasse sich nicht mehr ändern.” (S. 115) Gleichzeitig beweist Kully schon eine Reife und Verantwortungsbewusstsein, die sich in ihrem Alter meist nicht zeigen. Kully musste aufgrund ihrer vielen Sorgen und der starken Ängste der Mutter, welche Kully folgendermaßen beschreibt: „Nachts hält mich meine Mutter so fest, dass es mir wehtut und ich nicht schlafen kann”, (S. 103) schnell erwachsen werden. Dies zeigt sich in ihrem Verhalten. Sie hat Wünsche, die sie jetzt als Kind nicht erleben kann, sie „möchte so gern mal wieder mit einem Kind spielen.” (S. 103) Stattdessen muss sie sich Sorgen machen um die Welt und den Krieg und, ob dieser schon da ist. Dies unterstreichen ihre fragenden Gedanken: „Was ist nur los mit der Welt?” und „Ist das der Krieg?” (S. 103) Als sie berichtet, dass sie es nicht leiden kann, „wenn Menschen Kinder so dumm finden, dass sie denken, die würden alles glauben” (S. 118) erscheint Kully sehr erwachsen und selbstsicher.

Das zeitlose Thema sorgt dafür, dass der Roman jetzt, fast 80 Jahre später noch nicht an Relevanz verloren hat. Im Gegenteil; gerade in den vergangenen Jahren ist das Thema Emigration wieder immer mehr in den Vordergrund gerückt. Die vielen Flüchtlinge, die Schutz in Deutschland suchten und suchen, zeigten uns, wie nah das Thema auch für uns ist. Zu jeder Zeit suchen Menschen in anderen Ländern nach einem Leben ohne Sorgen, ohne Krieg. Dafür müssen viele Familien, so auch Kullys Familie, durch viele Länder reisen. Der Roman endet mit der Frage, ob Kully Heimweh habe. Sie antwortet darauf: „Manchmal habe ich Heimweh, aber immer nach einem anderen Land [...].” (S. 214) Hier lässt sich eine Verbindung zum passend gewählten Titel des Romans herstellen, denn an dieser Stelle zeigt sich, dass Kully ein „Kind aller Länder” ist. Anschließend, als Kully betont, dass sie jedoch kein Heimweh habe, wenn ihre Mutter und vor allem ihr Vater bei ihr seien, zeigt, dass in einer solchen schwierigen Zeit und Notlage, die Familie und der Zusammenhalt die größte und wichtigste Rolle im Alltag spielen (vgl. S. 214).

Nachdem die Autorin Irmgard Keun aufgrund ihrer verbotenen Bücher ins Exil nach Ostende ging, lebte und reiste sie zwei Jahre lang mit dem Schriftsteller Joseph Roth um die Welt und arbeitete dabei an diesem Roman. So lassen sich gewisse Parallelen zwischen dem im Buch beschriebenen und Keuns wirklichem Leben erkennen, sodass Kullys Mutter und Vater als Joseph Roth und Irmgard Keun erkennbar sind. Keun und Roth verbrachten ihre gemeinsame Zeit mit einem starken Hang zum Alkohol und intensivem Schreiben. Genau wie Kully und ihrer Familie, flüchtete auch Irmgard Keun vor dem Nationalsozialismus und dem Krieg, auf der Suche nach einem besseren und stabilen Leben. Nach ihrer Rückkehr im Jahr 1940 lebte Keun zunächst illegal in Deutschland. Sie und ihre Bücher waren zudem aufgrund des Verbotes in Vergessenheit geraten. 1979 wurde sie jedoch wiederentdeckt und auch heute spielt sie, wie sich zeigt, noch eine große Rolle. 1982 verstarb sie allerdings.

Meiner Meinung nach handelt es sich bei Irmgard Keuns Roman um ein gelungenes Werk. Beim Lesen erfährt der Leser viel über Kullys Leben auf der Flucht und ihre kindlichen und doch schon erwachsenen Gedanken bzw. ihre Verhalten. Da die Geschichte aus der Sicht eines Kindes erzählt wird, muss nicht viel interpretiert werden und es ist eine einfache Lektüre. Trotzdem handelt es sich nicht um ein zu kindlich geschriebenes Werk. Auffällig ist, dass der Roman nicht in Kapitel unterteilt ist. Es lassen sich jedoch Abschnitte durch schriftbildliche Markierungen erkennen. Das nicht in Kapitel unterteilte Schriftbild erschwert dem Leser teilweise das Lesen; dadurch, dass der Leser aber in den Bann des Buches gezogen wird, erschwert es zugleich von dem Roman loszulassen und sich anderen Dingen zu widmen, sodass man mit der Lektüre relativ schnell durch ist. Zeitweise fiel es mir schwer, nicht den Überblick zu verlieren, da Kully oft auf Geschichten der Vergangenheit eingeht und weit ausschwenkt.

Empfohlene Zitierweise

Anna-Lena Mose, Rezension von: Irmgard Keun: Kind aller Länder, In: LESEPUNKTE 2017, URL: https://www.lesepunkte.de/rezensionen/irmgard-keun-kind-aller-laender-6/
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