Mit dem Bus…
LGBTQ, Rassismus, Klassengesellschaft, US-amerikanisches Jugendstrafrecht – können so viele sensible und schwierige Thematiken zusammen gut in einem Buch unterkommen? Das können sie, wie uns Dashka Slaters Roman „Bus 57“ zeigt:
Sasha kommt aus der reicheren, sicheren Region Oaklands. Sier* geht auf eine Privatschule und identifiziert sich als agender. Richard ist Afroamerikaner und in Oaklands gefährlicher Gegend aufgewachsen, immer umgeben von Gewalt. Er geht auf eine öffentliche Schule und hat als jugendlicher Straftäter länger in einer betreuten Wohngruppe für jugendliche Straftäter gewohnt. Das Einzige, was die beiden Jugendlichen miteinander verbindet, ist die tägliche Busfahrt mit der Linie 57. Bis Richard eines Tages Sashas langen, weißen Rock anzündet und damit eine ganze Reihe von Ereignissen in Bewegung setzt…
Diese Begebenheit ist wahr. Lehrreich und doch äußerst spannend erzählt das Buch die außergewöhnliche Geschichte zweier Jugendlicher, ohne eine klare Position zu beziehen. Obwohl Richard der Täter ist, hat man auch für ihn Sympathien, denn er wird genauso in der Erzählung behandelt wie Sasha.
Slater setzt dies um, indem sie Sasha und Richard jeweils einen der vier Teile widmet. Als erstes wird über Sasha erzählt, über sien Leben vor dem Vorfall, über siene Interessen sowie über siene Freunde und sien sicheres Leben in Oaklands reicherer Gegend. Der zweite Teil widmet sich Richard, welcher im Gegensatz zu Sasha ein eher schwieriges Leben hatte. Er berichtet über seine schwierigen Familienverhältnisse, seine liebevolle Mutter Jasmine sowie über seine besten Freunde, mit welchen er sich in den gefährlichen Teilen Oaklands herumtrieb. Die zwei Teile behandeln die Zeit, als noch alles soweit normal war. Das Feuer wird im dritten Teil beschrieben. Die Busfahrt, das Herumgespiele, die Helfer, all das findet dort ausführlich seinen Platz. Der letzte Teil heißt ‚Die Justiz‘. Er behandelt Richards Verfahren, welches sehr schwierig ist, da er mit 16 als Erwachsener angeklagt werden soll und nicht nach Jugendstrafrecht, und ihm somit sämtliche Privilegien entzogen werden, welche ihn schützen. Zudem dokumentiert dieser letzte Teil des Buches alle Gerichtsbesuche und Strafanstaltsaufenthalte, aber auch Sashas Leben nach dem Vorfall.
Dashka Slater hat in dieses Buch viel Arbeit gesteckt, und das merkt man. Als Journalistin für die New York Times hat sie über diesen Fall einen Artikel geschrieben, wollte ihm aber eine größere Bühne geben. Für das Buch hat sie nicht nur Eltern, Freunde und Lehrer interviewt, sondern auch Außenstehende, die verantwortlichen Richter und Anwälte, das Personal von Sashas Krankenhausaufenthalten und Richards Aufenthalten in diversen Einrichtungen. Sie suchte Überwachungskameravideos und holte sich Hilfe, Fakten und Extrainformationen von Experten, ob sie direkt mit dem Fall beschäftigt waren oder nicht.
Der hervorragend recherchierte Roman wird untermalt von TUMBLR- und Instagram Posts – allerdings ohne Bilder – und echten Chatverläufen, sowie anderen Dokumenten. Die brutale Echtheit der Angelegenheit ist nicht anzweifelbar.
Der Fall ist so relevant, weil solche Dinge überall passieren. Überall gibt es verbale, oft auch körperliche Gewalt gegen gesellschaftliche Minderheiten. Bücher sind da großartige Aufklärungsmittel. Ich habe beim Lesen selber bemerkt, dass ich angefangen habe, über meine eigene Position nachzudenken. Auf den ersten Blick ist es eindeutig: Richard ist der Täter und Sasha das Opfer, aber je weiter man liest, desto mehr merkt man, dass nichts eindeutig schwarz oder weiß ist. Alles ist ein graues Gemisch.
Außerdem fand ich das Buch deswegen so super, weil es schwierige Sachverhalte leicht verständlich erklärt. Es informiert über Themen, die man vielleicht so gar nicht behandeln würde, und LeserInnen über 12 finden einen guten Zugang. Außerdem sind die Kapitel kurz gehalten und relativ stark voneinander getrennt, sodass sich das Buch auch gut für Bahnfahrten zur Schule oder ähnliches eignet. Von mir gibt es 5 von 5 Lesepunkte für zwei außergewöhnliche Jugendliche und eine hervorragende Autorin.
*Anmerkung der Redaktion: Da es sich bei Sasha um einen literarischen Menschen handelt, der sich als genderneutral identifiziert, hat Lilly Kurz, die Autorin der Rezension sich (in Anlehnung an die literarische Umsetzung durch Buchautorin Dashka Slater) für die Verwendung des genderneutralen Pronomens „sier“ entschieden, eine Mischung aus „sie“ und der Endung der deklinierten er-Form, vgl. dazu https://nibi.space/pronomen#sier.