Endlich einmal ein Roman über das Phänomen der Bacha Posh, das den Gegenstand mit genau der Haltung behandelt, wie er es verdient: schonungslos und ohne dabei auf ein etwaiges LeserInnenbedürfnis nach einem Happy End zu achten! Bei den Bacha Posh handelt es sich um meist afghanische Mädchen, die von ihren Eltern bis zum Einsetzen der Pubertät als Jungen großgezogen werden (Welche Konsequenzen das in der außerliterarischen Welt für die Kinder hat, lässt sich in Jenny Nordbergs vor kurzem erschienenen Studie „Afghanistans verborgene Töchter: Wenn Mädchen als Söhne aufwachsen“ nachlesen).
Die literarische Verarbeitung dieser in Afghanistan, Pakistan und einigen anderen Ländern gesellschaftlich akzeptierten Praxis eines erzwungenen, tief in die Identität der Betroffenen einschneidenden Crossdressings hat sich bisher recht dürftig ausgenommen: Meist diente die in den Jugendromanen der letzten Jahre thematisierte weibliche Maskerade pragmatischen Zwecken, etwa Besorgungen der Protagonistinnen auf dem Markt, und war stets über sehr kurze Erzählzeiträume zu finden (So zum Beispiel in Deborah Ellis‘ Roman Die Sonne im Gesicht). Dass eine schwere Identitätskrise thematisiert würde, die in der ‚Realität‘ von den Bacha Posh bewältigt werden muss, ist allenfalls in Siba Shakibs Roman Samira und Samir dargestellt worden – aber auch dort findet sich ein (an den Haaren herbeigezogenes) Happy End.
Charlotte Erlih ist diesbezüglich ehrlicher zu ihren LeserInnen – und das ist gut so. Ihr Roman, der 2013 mit dem „Prix NRP de litérature de jeunesse“ und 2014 mit dem „Prix Sésame“ ausgezeichnet worden ist, beginnt zunächst als fröhlich anmutende Sportgeschichte einiger afghanischer Jugendlicher: Sport verbindet, lässt die adoleszenten Figuren über sich hinaus wachsen, das zunächst als unwahrscheinlich markierte sportliche Ziel (hier: die Ruder-Auswahl zu den Olympischen Spielen) wird zum Ende, nach einigen Hindernissen, natürlich erreicht.
Erlih schleudert ihrem Protagonisten (und Schlagmann des Ruder-Teams) allerdings im 15. Kapitel ein Hindernis entgegen, das eine vorzeitige und endgültige Disqualifikation darstellt: ‚er‘ menstruiert nämlich! Erst an dieser Stelle wird klar, dass der maskulin auftretende Farrukh – physisch zumindest – ein Mädchen ist. Und während die erstaunte LeserIn noch kopfschüttelnd umblättert, wird langsam deutlich, dass die optimistische Olympiageschichte à la ‚Sport überwindet alle Grenzen‘ vorbei ist – ab jetzt beginnt für Farrukhzad, dem Mädchen unter der Burka, eine Art Käfighaltung.
Erlih vermeidet es dabei geschickt, in ihrem Roman in den Verdacht eines ‚Islam-bashings‘ zu geraten: Farrukh/zads Vater ist diplomierter Alumnus der Pariser Universität Sorbonne – also ganz klar als westlich gebildet und vermeintlich kultiviert markiert. Zugleich ist er jene Figur, die am endgültigsten und beklemmensten das eigene Verhalten auf das temporäre ‚Geschlecht‘ ihres Kindes richtet. Farrukh/zad ist als einziger Sohn der Familie gesehen worden, weshalb sich sein Vater besonders zärtlich und aufmerksam um ihn gekümmert hat: Gemeinsame Literaturstunden und allabendliche Gespräche lassen die LeserIn zunächst in dem Glauben, dass hier eine Vater-Kind-Bindung entstanden ist, die liebevoll und sicher ist. Umso erschütternder wird die Lektüre, wenn man liest, dass auch hier keinerlei Hoffnung besteht: Nach Einsetzen ihrer Menstruation ist es Farrukh/zad noch nicht einmal erlaubt, mit dem geliebten Vater alleine zu sprechen, geschweige denn ihn nur anzublicken.
Erlihs Roman Bacha Posh handelt aber nicht nur von letztlich sehr brüchigen familiären Banden, er thematisiert auch die tiefe Freundschaft von 15jährigen Jungen, und was mit dieser Freundschaft passiert, wenn ein vermeintlicher Verrat alles zu vernichten droht. In besonderer Weise wird in dieser Geschichte jedoch das Phänomen der Bacha Posh selbst in den Mittelpunkt gestellt. Es wird aus ihrem Blickwinkel in aller Schonungslosigkeit beleuchtet, wie alles, was die eigene Identität betrifft – die Familie, die Freundschaften, die Ausbildung, den Sport, das Sozialleben, die Träume von der Zukunft – durch ‚einen Blutstropfen‘ zerschellt.