Zwei Stunden mit Irmgard Keun
Zwei Stunden mit Irmgard Keun
Köln. Wir sitzen wartend auf einer Bank vor einem Jugend-Kulturzentrum. Was uns genau erwartet, wissen wir nicht. Eine zweistündige Führung durch Köln zu dem Thema Irmgard Keun, wurde uns gesagt. Mit der Zeit stoßen immer mehr Menschen zu uns. Es bildet sich eine Gruppe aus Frauen und ein paar Männern. „Wollen Sie auch zur Führung über Irmgard Keun?“, fragen sich alle gegenseitig. Bestätigendes Nicken. Wir halten uns bescheiden - vielleicht auch etwas schüchtern zurück. Wir hatten mit SchülerInnen und Studierenden gerechnet.
Punkt zwei Uhr kommt eine Frau den Bürgersteig elegant entlang geschritten. In einen Pelzmantel geschlungen, mit altmodischen Schuhen und einem geblümten Kleid, gewährt uns die Frau sofort einen Einblick in die Vergangenheit. Auch ihre Frisur ist typisch Zwanziger Jahre. Sie sei Irmgard Keun, erklärt sie uns mit einem Lächeln und wolle uns für zwei Stunden durch ihre Heimat Köln führen. Und schon beginnt Keun uns Namen und Daten zu nennen. Sie erzählt uns von ihren Freunden, wie beispielsweise Hermann Kesten, der Autor, Lektor und Herausgeber war. Kennengelernt haben sie sich im Exil und tauschten von da an Briefe aus. Er habe Literatur gelebt und geatmet. In ihrer Hand hält Keun ein großes Buch mit kurzen Ausschnitten aus ihren Manuskripten. Zunächst liest sie uns einige Passagen aus dem Leben der Familie Klatter vor. Eine davon ist uns besonders in Erinnerung geblieben: „Doch ab und zu klingelt es bei Klatters. Und immer noch kommen Leute rein, die was haben wollen, was Frau Klatter mal geklaut hat. Aber natürlich wehrt sich Frau Klatter. Was sie einmal hat, das gibt sie nicht mehr her. Mag sein, dass einem Menschen eigenhändig Geraubtes stärker ans Herz wächst als ehrlich Erworbenes.“
Während wir uns auf den Weg zu einem anderen Ort machen, den Keun uns zeigen will, erzählt sie uns im Vertrauen, dass sie sich ein Leben lang jünger gemacht habe. Ganze fünf Jahre! „Bei der Schauspielschule brauchte man das ja“, erklärt sie uns. Ja, sie hatte zuerst eine höhere Mädchenschule besucht, wo sie kein Abitur abgelegt hat. Daraufhin besuchte sie eine Schauspielschule in Köln. Doch ihre Schauspielkarriere fand ein schnelles Ende, denn sie hatte das Gefühl ihre einzigartige Persönlichkeit hinter Rollen zu verstecken. Das wollte sie nicht! Das wollte sie ganz und gar nicht! So fing Irmgard Keun das Schreiben an. Früher kaufte sie immer Illustrierte, bevor sie arbeitete. Erst löste sie die Kreuzworträtsel, dann sah sie sich die Bilder an und las einen Roman. Von einer tiefen Melancholie ergriffen, begann sie dann zu scheiben. „Gilgi, eine von uns“ war ihr Erstling. Der Roman erschien 1931 in Berlin und wurde über Nacht erfolgreich. „Keiner ist gern, wer man ist“,erklärt Keun uns. Genau das sollte ihr Roman aussagen. „Immer dasselbe. Jeden Tag ins Geschäft. Tag für Tag“. Binnen kürzester Zeit wurde „Gilgi“ auch verfilmt.
Wir sind vor einem kleinen Theaterhaus angekommen und Irmgard Keun schlägt wieder ihr Buch auf, was sie zuvor noch energisch und entschieden unter ihrem Arm getragen hatte. Es folgen wieder einige Auszüge aus ihren Werken. Besonders spannend war der Einblick in das Leben der Familie Kron. Auch wenn Keun uns nicht sagte, zu welchem Werk der folgende Auszug gehörte (es ist anzunehmen, dass wir „Gilgi“ gehört haben), möchten wir ihn hier kurz wiedergeben, da allein in den wenigen Zeilen das alltägliche Leben eines bürgerlichen älteren Ehepaares zu finden ist. Mehr Worte sind nicht nötig, um die gähnende Langeweile zu beschreiben und der verzweifelte Versuch, die Leere im eigenem Leben nicht zu beachten: „Keiner spricht. Der vollkommene Mangel an Unterhaltung kennzeichnet das anständige Legitimierte der Familie. Das Ehepaar Kron hat sich ehrbar bis zur silbernen Hochzeit durch gelangweilt. Herr Kron liest im Kölner Stadtanzeiger. Sein rundes Gesicht hat den betroffenen Ausdruck, den der Gewohnheitszeitungsleser anzunehmen hat. Ein anständiger Mensch kann unmöglich ein fröhliches Gesicht machen, wenn er liest: SKANDAL IM HAUSHALTSAUSSCHUSS, RAUBÜBERFALL AUF EIN BUTTERGESCHÄFT... lauter unerquickliche Sachen. Herr Kron liest laut: „Tragödie in Berlin. Eine Frau ist mit ihrem Kind ins Wasser gesprungen“ „Beide tot?“, fragt Frau Kron beinahe hoffnungsfroh. Nicht aus Rohherzigkeit. Nein. Sie spürt nur gern das mitleidsvolle Gruseln, das ihr Totes und Skandalbotschaften verursachen.“ Mit einem Blick auf das Theaterhaus unterbricht Keun sich und macht uns ein weiteres Geständnis: „Ich hätte nie Weihnachtsengel werden dürfen. Ich bin als Weihnachtsengel gehalten von einem dünnen Draht über eine Bühne geflogen. Ich hatte Angst und Brechreiz.“ Mit einem Krug musste sie mit anderen Mädchen über die Bühne laufen. Keiner sprach mit ihr. Sie hatten alle ein Getue und beachteten sie mit „Verachterei“. Nur sich selbst fand jeder wunderbar. Die Einzigen, die sich normal verhielten, waren die Hausmeister, die, anders als die anderen, immer freundlich grüßten. Das Besondere an Irmgard Keuns Schreibstil fällt uns in diesem Augenblick ganz besonders auf: Irmgard Keun, die große Künstlerin, verfolgte einen Stil, den wir sonst bei noch keinem Autor oder keiner Autorin kennengelernt haben. Ihre grammatikalisch, teilweise inkorrekte Stilistik des Schreibens und das Erzählen aus der Ich-Perspektive erzeugen bei LeserInnen das Gefühl im Kopf des Protagonisten zu sitzen oder gar er oder sie selbst zu sein. Die Umgangssprache gibt dir das Gefühl von einem Alltag, als würde man gar nicht lesen, sondern sich mit jemandem unterhalten. Daher fiel es uns auch bei der Führung teilweise schwer zu unterscheiden, ob sie in der Rolle der Irmgard Keun mit uns redete oder aus ihren Romanen vorlas.
Ebenso war es mit dem Geständnis des Weihnachtsengels. Nahmen wir doch erst an, dass es sich um eine wahre Geschichte aus Keuns Leben handelte, so mussten wir doch letztendlich feststellen, dass es sich auch hierbei um einen Auszug aus einem ihrer Romane handelte. Dieses Mal „Das Kunstseidene Mädchen“. Zur Inspiration zu diesem Werk bediente Keun sich sicherlich ihrer eigenen Schauspielerfahrungen. Sie hatte nämlich am eigenen Leib erfahren, wie hart und auslaugend dieses Business sein kann und hatte Gefallen an Pelzmänteln und Luxus gefunden, ebenso wie die 18-jährige Doris, die mit einer Art von Tagebucheinträgen in dem Roman von ihrem Leben erzählt. „Ich bin eine Dame und bin so fein, dass ich „Sie“ zu mir sagen könnte“. Den gesamten Roman über ist Doris mehr Zuschauerin als Teilhaberin. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Roman die Realität der Frauen um die Zwanziger Jahre darstellt. Doris, eine literarische Figur, lebt zuerst eine Illusion von Träumen, bis sie letztendlich in der harten Realität aufwacht. Dementsprechend passend endet der Roman mit den Worten: „Auf den Glanz kommt es nämlich vielleicht gar nicht so furchtbar an“. Wir setzen unseren Weg fort und kommen an Heinrich Bölls Geburtshaus vorbei. Mit Böll war Irmgard Keun in den 50ern eng befreundet.
In Römerpark angekommen, erzählt Irmgard Keun uns einiges über die Edelweiß Piraten. Sie haben damals Lebensmittelwagen überfallen und das Essen an ZwangsarbeiterInnen verteilt. Also im Klartext: Sie waren Helden. Güterzüge zum Beispiel haben sie mit Kreide gegen Nationalsozialisten verziert und sie verteilten Flugblätter. Manche wurden für ihre Taten gefoltert, manche sogar gehängt. Einmal, erzählt Keun uns, hat sie einen Mann aus Bonn getroffen, der meinte: „Das waren doch alles Verbrecher!“ Und warum sind wir dafür zum Park gegangen? Die Edelweiß Piraten trafen sich dort immer und, weil dort kommenden Sonntag das Edelweißfestival stattfinden sollte Keuns Geschichte nimmt ihren Lauf. Ihre Bücher wurden beschlagnahmt und verbrannt. Die Bücherverbrennung ging von nationalsozialistisch gesinnten Studenten aus. Auch wenn Keun vorerst in ihrer Heimat blieb, so ging sie schließlich doch ins Exil nach Ostende (1936-40). Von ihren Sommerurlauben mit der Familie kannte sie Ostende bereits und verbrachte auch jetzt wieder eine schöne Zeit dort. Sie war endlich unter Leuten ihresgleichen, mit denen sie sich austauschen konnte. Im Exil schreibt sie den Roman „Nach Mitternacht“, indem sie Hitler folgendermaßen beschreibt: Er gibt nur eine leere Faust, statt wie an Karneval Süßigkeiten. Im Exil trifft sie außerdem auf den Schriftsteller Joseph Roth, mit dem sie später ein Paar wird. Wie bei dem Gedicht „Haut und Haar“ von Ulla Hahn, wollte Joseph Roth Keun allerdings besitzen. Doch Joseph Roth war nicht ihr einziger Liebhaber. Johannes Tramp, ein Lehrer ihrer Schauspielschule, fand sie interessant, nachdem sie ihre ersten Werke veröffentlicht und gut Geld verdient hatte. Sie heirateten, zogen jedoch nie zusammen. Außerdem gab es noch Arnold Strauß, der Jude war und 1933 ins Exil fliehen musste. Er schickte ihr Geld, damit sie zu ihm kommen konnte, doch sie wollte nicht, da Europa ihre Heimat war.
Wir betreten das Gelände der heutigen technischen Hochschule Kölns und früheren Universität. Vor dem Eingang liegen Steinplatten, auf denen Namen sämtlicher Schriftsteller, deren Werke verbrannt wurden, eingraviert sind. Darunter natürlich auch Irmgard Keun und ihr Partner Joseph Roth. Unter den hohen Decken hängt noch der originale Kronleuchter der Nazizeit. Damals war an der Wand, die einem beim Betreten direkt ins Auge springt, ein großes Hitler-Bild positioniert.
Weiter werden uns ihre damalige Wohnung Irmgard Keuns und das kleine Lädchen um die Ecke von außen gezeigt.
Die Führung endet mit begeistertem Applaus und dem Aufdecken der wahren Identität der doch so guten „Irmgard Keun“- gespielt von Sonja Kargel.
Empfohlene Zitierweise
Luca Körnich & Anna-Lena Mose [Schülerinnen des Max-Ernst-Gymnasiums Brühl]: Zwei Stunden mit Irmgard Keun: In: lesepunkte 2017, URL: https://www.lesepunkte.de/projekt/zwei-stunden-mit-irmgard-keun/Bitte setzt beim Zitieren dieses Beitrags hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Eures letzten Besuchs dieser Online-Adresse.
Sehr geehrte Autorinnen!
Vielen Dank für Ihre schöne Kritik! Darf ich sie auf meiner Website in Auszügen zitieren?
Liebe Grüße
Sonja Kargel
Liebe Frau Kargel, Sie dürfen uns sehr gerne zitieren.