Interview mit Irmgard Keuns Tochter, Martina Keun-Geburtig
Interview mit Irmgard Keuns Tochter, Martina Keun-Geburtig
Die Schülerin Gesine Geupel im Gespräch mit der Tochter von Irmgard Keun, bei der Veranstaltung Kind aller Länder – Kind keines Landes? Von Fluchterfahrungen, Fremdsein und Sprachlosigkeit .
Gesine: Was hat Ihnen Ihre Mutter von ihren Erfahrungen und ihrem Leben aus den späten 30er Jahren berichtet?
Zunächst hat sie mir sehr wenig erzählt und mich auch nie direkt damit konfrontiert. Sie hat mich auch nie dazu gedrängt, ihre Bücher zu lesen, da für sie klar gewesen ist, dass ich beizeiten selber nach ihnen greifen würde – sie sollte Recht behalten.
Gesine: Erkennen Sie Ihre Mutter in dem Roman „Kind aller Länder“ wieder?
Ja, ihre lockere Art und das Unkomplizierte kann ich an vereinzelten Stellen wiedererkennen. Ich muss aber sagen, dass meine Mutter und ich uns nie explizit über ihren Roman „Kind aller Länder“ unterhalten haben. Es hat sich einfach nicht ergeben.
Gesine: Sie sind viele Jahre nach dem Erscheinen des Romans geboren worden, aber erkennen Sie sich dennoch in der Protagonistin Kully wieder?
Nein, nicht so direkt. Vielleicht in einzelnen Dingen oder Verhaltensweisen, wie die freie Erziehung, die ohne Zwänge gewesen ist. Meine Mutter ist sehr unkonventionell gewesen. Ich erinnere mich noch gut an einen Satz von ihr, der dies gut beschreibt: „Martina, du kannst mir alles sagen, du musst mir aber nichts sagen.“ Du merkst, ich wurde sehr frei erzogen, was nicht bedeutet, dass es keinen roten Faden in der Erziehung gegeben hat.
Gesine: Wie politisch denkend und handelnd war Ihre Mutter?
Als junges Mädchen habe ich das nicht so wahrgenommen, wie politisch denkend und handelnd sie gewesen ist, da ich einfach zu klein gewesen bin. Erst als ich älter war, realisierte ich, dass sie eine eher liberale Einstellung hatte.
Gesine: Bei der Lektüre des Romans kann man sich manchmal die Frage stellen, ob es sich um eine Romantisierung von Flucht handelt. Wie sehen Sie das?
Nein, das würde ich nicht sagen. Wir erleben in dem Roman zwar die kindliche Perspektive auf Flucht, aber Kully erzählt ja von ihren Erfahrungen, die vor allem auch durch Ängste geprägt sind. Man darf nie vergessen, dass es sich bei Kully um ein Mädchen handelt, das erst zehn Jahre alt ist.
Gesine: Welche Rolle spielte das Schreiben und die Literatur nach dem Krieg bei Ihrer Mutter?
Beides spielte natürlich eine Rolle, aber es war nicht so leicht, da es zu dieser Zeit noch viele Nazis geben hat und einige fanden sich natürlich auch in den Texten meiner Mutter wieder, wie zum Beispiel in „Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen“. Meine Mutter hat aber nicht nur Romane verfasst, sondern auch sehr viel für Zeitschriften geschrieben und Radiosendungen für den damaligen NWDR und WDR gemacht.
Gesine: Welche Rolle spielen Schreiben und Literatur in Ihrem eigenen Leben?
(lacht) Literatur ja, aber Schreiben nein, das mochte ich nie. Aufsätze sind ein Graus für mich gewesen, weshalb meine Mutter sie mir manchmal geschrieben hat (lacht). Das war praktisch und die Ergebnisse dementsprechend gut.
Gesine: Ihre Mutter hat nach dem Krieg hauptsächlich in Köln gelebt. Glauben Sie, dass sie nach Ihrem unsteten Leben hier Wurzeln schlagen konnte?
Ja, das Elternhaus stand in Köln-Braunsfeld. Da hat sie später auch gelebt, als sie aus der Emigration zurückkehrte – Köln war ihre Heimat.
Gesine: Glauben Sie, dass die Anerkennung, die Ihre Mutter in den letzten Jahren vor ihrem Tod erfahren hat, für sie eine Art Entschädigung für die 30 Jahre des Vergessens waren?
Ja, das glaube ich schon. 1978 hat sie begonnen, an Universitäten, wie beispielsweise Mainz, Lesungen zu halten und durch das Werk „Die verbrannten Dichter: Berichte, Texte, Bilder einer Zeit“ von Jürgen Serke wurde ihr viel Anerkennung zu Teil, die sie genossen hat. Auch die Verfilmung von „Nach Mitternacht“ 1981 war eine große Anerkennung für sie.
Dann hat sie ja auch Ende 1981 den Marieluise-Fleißer-Preis zugesprochen bekommen. Leider konnte sie aber nicht mehr zu der Preisverleihung nach Ingolstadt fahren, um den Preis persönlich entgegen nehmen zu können.
Gesine: Fühlte sich Ihre Mutter von der feministischen Literaturwissenschaft vereinnahmt und was dachte sie über Feminismus?
Ich glaube, dass sie das nicht großartig berührt hat. Vor allem die aggressive Art des Feminismus brauchte sie nicht, da sie emanzipiert war und gerne eine Frau gewesen ist. Sie hat es genossen, wenn ein Mann ihr in den Mantel geholfen hat oder ihr von einem Mann die Zigarette angezündet wurde. Sie hat das Leben als Frau geliebt.
Gesine: Welcher der Romane Ihrer Mutter gefällt Ihnen am besten?
„Gilgi, eine von uns“, das ist mein Lieblingsbuch, weil es so emotional ist. „Kind aller Länder“ zählt aber auch dazu, weil ich die Figur Kully einfach gerne mag. Das sind wirklich meine beiden Lieblingswerke.
Gesine: Auch vor dem Hintergrund des Romans, wie beurteilen und empfinden Sie die heutige Flüchtlingssituation?
Es ist wirklich schlimm, was derzeit in unserer Welt passiert und ich bin der Meinung, dass wir diesen Menschen helfen müssen. Aber die Ämter sind überfordert, wie die beiden Jungs das heute auch berichtet haben. Ich glaube aber, dass das Problem darin liegt, dass keiner richtig auf die Situation vorbereitet gewesen ist. Vieles ist zu bürokratisch und kompliziert.
Gesine: Sie wissen nicht, wer Ihr Vater ist. Konnten Sie Ihrer Mutter das verzeihen, dass sie es Ihnen nie erzählt hat?
Ich muss sagen, dass mich das damals gar nicht so berührt hat. Ich kann mich an eine Situation erinnern, da war ich mit meiner Mutter in München und wir gingen eine Straße rechts der Isar entlang. Meine Mutter zeigte auf ein Haus mit den Worten: „Da bist du gezeugt worden.“ In dem Moment war es vollkommen in Ordnung. Erst später kamen Fragen in mir auf, aber da konnte ich sie meiner Mutter leider nicht mehr stellen. Heute denke ich, dass sie vielleicht ihre Gründe gehabt haben wird, warum sie es mir nicht erzählen wollte oder konnte.
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