“Die Mitte der Welt” in Köln – LESEPUNKTE im Interview mit dem Erfolgsregisseur Jakob M. Erwa

“Die Mitte der Welt” in Köln – LESEPUNKTE im Interview mit dem Erfolgsregisseur Jakob M. Erwa

"Es kann selbstverständlich werden, schwul zu sein, ohne dass man was oder sich erklären muss."Mail-Collage klein

LESEPUNKTE: Zeit Online schreibt über deinen Film: „Ein Blitzschlag ist nichts dagegen.“ Ebd. Films schreibt, dass dir mit der Adaption des Romans „ein großer Wurf“ gelungen sei. Was ist es für ein Gefühl, wenn man solch lobende Kritik über das eigene Werk liest oder hört?

Vor allem empfindet man große Dankbarkeit, gerade, wenn KollegInnen das sagen, freue ich mich natürlich wahnsinnig. Nach sechs Jahren Arbeit ist es eine große Ehre, dass der Film so gelobt wird. Aber es gibt auch die negativen Stimmen und dann können es noch so viele positive sein, wenn eine negative dabei ist, dann nervt mich das riesig, obwohl so viel Gutes dabei ist.

LESEPUNKTE: Woher kommt deine Begeisterung für Filme bzw. für das Filmemachen?

Film und Filmemachen war zunächst gar nicht meine Ursprungsbegeisterung, das war die Musik, weshalb ich eigentlich Rockstar werden wollte (lacht). Filme mochte ich schon immer sehr, aber ich habe Filmemachen als sehr abstrakt empfunden, weil es so groß und so viel ist und in Filmen ganze Welten dargestellt werden. Mit 17 musste ich mich dann, ein Jahr vor dem Abitur, entscheiden, was ich studieren wollte, dass es was mit Kunst wird, das war klar, da ich auf einer Kunstschule gewesen bin und mich Kunst einfach begeistert hat. Ich fing an, mich umzuschauen und zu gucken, ob ich was finde, wo ich mich nicht zwischen bildender und darstellender Kunst entscheiden muss, sondern wo ich diese beiden Kunstformen verbinden konnte. Ich wollte mehrere Sinne ansprechen und so ist es dann der Film geworden. Du hast im Film im weitesten Sinne Musik und Bilder, mit denen du erzählen kannst und eben Geschichten, die du erzählen kannst. Ich habe einfach schon immer unglaublich gerne Geschichten erzählt.

LESEPUNKTE: Welche Bedeutung hat es für dich, junge Menschen mit unterschiedlichen kulturellen und sozialen Hintergründen mit einem Projekt im Bereich Film zu fördern?

Zum einen möchte ich das, wofür ich brenne, gerne weitergeben und zum anderen mag ich diese Energie, die von Jugendlichen ausgeht, wenn sie Feuer gefangen haben. Ich mag diesen Projektgedanken, mit Jugendlichen zusammenzuarbeiten, denn das fehlt heute sehr häufig in der Jugend. Soziale Medien sind so präsent im Alltag der Jugendlichen, dass sie nur noch wenig zusammenkommen, um gemeinsam etwas Kreatives zu erschaffen und das möchte ich mit diesem Projekt ein Stück weit ändern. Sie müssen gemeinsam arbeiten, sie betätigen sich kreativ und müssen aufeinander hören und sich mit einem Thema beschäftigen, das für sie eine Relevanz hat. Und das finde ich so genial, weil Emotionen entstehen und Energie freigesetzt wird. Dank der Organisation „Beteiligung.st“ - die in der Steiermark sitzt - und die erkennt, was Jugendliche für eine Kraft haben können, dass sie sich für Dinge einsetzten können, habe ich 2011 die Chance bekommen, diesen Workshop zu machen. Seitdem findet er einmal im Jahr statt und zwölf Jugendliche (sechs Jungen und sechs Mädchen) dürfen sich kreativ ausleben und sie dürfen „laut“ werden.

LESEPUNKTE: Was hat dich an der Romanvorlage Die Mitte der Welt so fasziniert, dass du sie unbedingt verfilmen wolltest?

Zunächst war es der Stil, wie Andreas Steinhöfel schreibt und welche Atmosphäre er mit seinen Worten schafft. Dann definitiv die Charaktere, die man als LeserIn nicht in jedem Buch liest oder in jedem Film sieht, dass Anderssein und wie er mit Homosexualität umgeht. Beeindruckt hat mich vor allem aber auch die völlige Selbstverständlichkeit von Homosexualität, die ich, als ich den Roman gelesen habe, so nicht kannte und was mir als junger Schwuler sehr viel Mut gegeben hat. Es kann selbstverständlich werden, schwul zu sein, ohne dass man was oder sich erklären muss.

LESEPUNKTE: Was war für dich der schönste Drehort für „Die Mitte der Welt“?

Ganz klar Visible – das totale Herzstück. Es war eine große Herausforderung diese Villa zu finden, aber der Ort sollte perfekt sein, weil die Villa im Roman eine so wichtige Rolle spielt. Ich wollte, dass sie wie eine Schauspielerin behandelt wird. Sie sollte Tiefe haben, Schatten und Sonnenseiten, mit dieser ablehnenden und abweisenden Fassade nach vorne, wie eine Burg, hinten dieser verwunschene Garten und innen dieser leicht verfallene Eindruck, wo es sich die kleine Familie aber gemütlich macht, so ein Haus, das für drei Personen viel zu groß ist, zu finden, das war schwer. Um so glücklicher bin ich aber über den Ort, den wir dann gefunden haben, der war und ist einfach so großartig.

LESEPUNKTE: Für Phil ist Amerika der Ort, der ihm innere Ruhe verleiht. Hast du auch so einen Ort der Sehnsucht oder einen Ort, der dir Ruhe verleiht?

Hmmm... Nein, ich glaube, einen spezifischen Ort habe ich tatsächlich nicht. Aber wenn es warm ist, Meer, ein See, Wasser da ist und es gutes Essen gibt, dann ist das schon ziemlich perfekt.

LESEPUNKTE: Im Film setzt du viel Musik ein, die, wie ich finde, immer sehr passend für die jeweiligen Szenen ist. Welche Macht oder Bedeutung schreibst du Musik in Filmen zu?

Eine Riesige. Film an sich ist schon sehr manipulativ, aber zusammen mit der Musik macht es das Ganze noch manipulativer, weshalb ich sehr bewusst mit Musik umgehe. Ich wähle die Stücke bewusst aus, weil ich großen Respekt vor dem Einsatz von Musik im Film habe. Während des Schreibprozesses habe ich bereits drei Ordner gefüllt. In dem einen sind Stimmungsbilder, in dem anderen sind Gesichter von SchauspielerInnen, die ich mir vorstellen könnte und in dem Dritten ist die Musik.

LESEPUNKTE: Im Film spielt Clemens Rehbein von Milky Chance die Rolle des Kyle. Warum hast du ihn ausgewählt?

Kyle sollte einen Worldtraveler darstellen. Er setzt sich aus drei Figuren aus dem Buch zusammen und musste für mich für ganz viele Figuren stehen und ein bestimmtes Gefühl davon vermitteln, dass er die Welt mitbringt und dennoch eine Bezugsperson für die Kinder darstellen, die ihn ins Herz schließen. Meine Vorstellung war dann, dass es ein Musiker sein muss, der das Gefühl des Worldtravelers mitbringt. So kam mir die Idee, Clemens von Milky Chance zu fragen, der zum Glück sofort begeistert war von der Idee und nach einem Casting stand fest, dass er es wird. Er hat sich übrigens sofort in die Villa verliebt und hätte sie am liebsten sofort gekauft (lacht).

LESEPUNKTE: Wie entscheidest du, was du aus der Romanvorlage für deinen Film herausstreichst und was nicht? Was ist die Schwierigkeit dabei?

Das ist super schwer, aber es gibt im Film das Sprichwort „Kill your darlings“ und du MUSST einfach irgendwann anfangen, Teile zu killen. Und dafür musst du dir schon zu Beginn deiner Arbeit sehr bewusstmachen, was die Mitte deines Films sein soll (lacht), bzw. das Zentrum deines Films. Worum geht es dir? Was soll Thema sein? Du musst zwar unglaublich viel streichen, aber wenn du diese Fragen für dich beantwortet hast, dann kannst du flexibel mit der Vorlage arbeiten, streichen, Figuren zusammenlegen, Zeitebenen reduzieren etc.. Und das muss man auch machen, weil man im Film viel konkreter sein muss als im Buch, weil man einfach nur 120 Minuten Zeit hat. Mir war wichtig, das Buch ins Heute zu holen, in unsere Zeit, um das Andocken leichter zu machen, aber dem Ganzen auch eine Offenheit zu geben, weshalb es auch keinen realen Ort in dem Film gibt. Aber im Arbeitsprozess wird es zunehmend leichter, Dinge zu streichen oder hinzuzunehmen, je mehr man in die Thematik und das Werk eintaucht.

LESEPUNKTE: Phil sagt im Buch, dass durch Bücher und Geschichten neue Welten entstehen können. Ist es für dich auch so, dass du durch Filme auch neue Welten entstehen lassen kannst?

Genau das ist für mich der Grund, Filme zu machen. Ich kann durch das Filmemachen neue Welten sehen und erleben, die ich sonst nicht sehen würde. Film gibt mir aber auch die Möglichkeit, Dinge zu erleben, die ich mich vielleicht in der Realität nicht trauen, oder auch nicht machen würde, weil ich mich zu alt oder zu jung dafür fühle. Film gibt mir aber auch die Möglichkeit Situationen und Ereignisse durch meine Charaktere zu erleben. Das ist einfach total wunderbar.

LESEPUNKTE: Also ist Film dein eigenes Haus, wo du Türen öffnen und wieder schließen kannst?

Ja, doch total irgendwie.

LESEPUNKTE: Was löst es bei dir aus, wenn du im Netz Hass-Kommentare zum Thema Anderssein liest oder auch zu deinem Film?

Hass-Kommentare gibt es, weil das Netz leider den Anschein von Anonymität bietet, und das tut leider immer weh. Ich glaube, dass man nie dagegen abhärtet und darüber lachen kann. Und dann kommt es auch darauf an, wie persönlich die geschrieben sind. Relativ „emotionslos“ gehe ich mit Kommentaren um, die kritisieren, dass ich das Buch nicht 1:1 übernommen habe, denn das geht einfach nicht, denn der Film ist eine eigene Kunstform. Auch wenn es mir dann in den Fingern kribbelt auf diese Kommentare zu antworten, lass ich es sein, denn es würde zu nichts führen.

LESEPUNKTE: Meine letzte Frage an dich bezieht sich auf deine nächsten Projekte. Gibt es ein ähnliches Projekt, dass dich so fasziniert, wie Die Mitte der Welt?

Ähnliche Gefühle beim Lesen, wie bei Die Mitte der Welt hatte ich definitiv bei Drachenläufer, aber der Roman ist ja leider schon verfilmt (lacht). Ansonsten habe ich gerade ein paar weitere Stoffe opponiert, wie z.B. den Roman Blumen für ein Chamäleon von Valeska Réon, der im Arbeitstitel Valeska heißt. Es handelt sich dabei um die wahre Geschichte und Autobiographie des ersten Transgender Models und spielt in der Fashion-Welt der 1980er Jahre in Paris und Deutschland. Eine wahre Gefühls-Achterbahn und eine moderne Geschichte über Identität, wieder voller großer Bilder und geiler Musik.

Ein weiteres Projekt ist die Verfilmung von Kirsten Boies Jugendroman Erwachsene reden. Marco hat was getan. Das Buch ist von 1994, aber die Thematik ist so aktuell, wie es eigentlich nicht mehr sein sollte. Es geht dabei um einen 14-jährigen, der ein AyslbewerberInnenheim anzündet und dabei kommen zwei Kinder ums Leben. Das Spannende an dem Buch, neben der Thematik ist die Form: Es wird ausschließlich in Interviews erzählt. Erst durch die insgesamt 13 Interviews bekommst du als LeserIn eine Ahnung davon, wie sie mit dem Jungen Marco in Beziehung stehen und was passiert ist. Außerdem arbeite ich schon seit längerem an einer wunderbaren Vater-Sohn-Tragikomödie. Ein Film über den Traum Musik zu leben, ein Film über Familienbande, Freiheiten und Verantwortung. Auch wieder stark ich. Mich faszinieren einfach unglaublich Beziehungsgeflechte, weshalb mich vielleicht auch diese drei Stoffe sehr interessieren und faszinieren.

Das Interview wurde von der LESEPUNKTE-Redaktion für einen verbesserten Lesefluss gekürzt und an eine geschlechtergerechte Sprache angepasst.

Kurzbiografie

Jakob M. Erwa wurde in Graz geboren und ist ein erfolgreicher Filmregisseur, Drehbuchautor und Filmproduzent.  Mit der Verfilmung des Jugendromans Die Mitte der Welt ist ihm ein außergewöhnliches Werk gelungen, das Millionen von ZuschauerInnen begeistert. Auch die Fachwelt würdigt ihn und sein Team mit zahlreichen Preisen.


 

 

Empfohlene Zitierweise

Interview mit Jakob M. Erwa (Julia Wagener). In: LESEPUNKTE, URL: https://www.lesepunkte.de/interview/ein-stueck-die-mitte-der-welt-in-koeln-lesepunkte-im-interview-mit-dem-erfolgsregisseur-jakob-m-erwa/
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